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Am Abgrunds taumeln, aber nicht fallen

[ud] Frisch im neuen Jahr angekommen, noch wohlig die Wohlstandswampe kreisend streichelnd nach üppigem Weihnachtsschmaus, halb schlaftrunken im Winterschlaf verweilend, schleppen sich die acht müden Gesellen ins düstere Tal von Mittersendling, um im undurchschaubaren Dickicht klotzender Betonbauten einen Weg ins Spiellokal – welch Euphemismus! – vom SK Siemens München zu finden.

Mühsal der Besten
»Woran arbeiten Sie?« wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete:
»Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.«*
Bertolt Brecht

Nie otchłań dzieli, lecz różnica poziomu.**
Stanisław Jerzy Lec

Allein die Ortsbestimmung – Raum 6415/2A16 – klingt eher wie ein Geheimcode denn als Adresse. Fast ausweglos für unser Spitzenbrett, der leider verschlafen hat. Die Lösung liegt in der Stellung des vierten Brettes! Indes stört es Daniel nicht viel, eine kleine halbe Stunde weniger Bedenkzeit zu haben, die ersten Züge sind flott aufs Brett gestellt:

Diagramm nach 13. d4

Diesen Aufbau spielt Daniel in letzter Zeit recht gern. Nach 13. … La6 14. Sb5 Db8 15. Se5 erhält er bald eine angenehme Stellung.

Am zweiten Brett spielt unser Theoriemonster in spe eine lange forcierte Zugfolge in der Alapin-Variante der Sizilianischen Verteidigung. Ich habe Angst.

Diagramm nach 13. Td1

Der Bauer e4 wird fallen und Weiß hat das Läuferpaar in offener Position. Aber Roman nimmt mir die Angst, wie er erzählt, kennt er sich perfekt aus und demonstriert in der Analyse einige haarsträubende Varianten. Madonna! Völlig entspannt nimmt er hier auf a2 den Bauern. Mir ist noch nicht klar, wie er das Läuferpaar neutralisieren will.

An meinem Nebenbrett sehe ich erfreuliche Geschehnisse. Martin opfert energisch einen Bauern, um das exzentrische schwarze Spiel zu bestrafen.

Diagramm nach 8. ... cxd5

Schwarz hat gierig den Bauern auf d5 verspeist, doch Martin antwortet mit dem starken 9. Tc1, der Schwarz vor schwierige Verteidigungsprobleme stellt. Und das nach neun Zügen! Bravo!

Mein Gegner hat heute seinen experiementierfreudigen Tag. Das freut allerdings nur mich. Nach wenigen Zügen erhalte ich diese schöne Stellung:

Diagramm nach 9. S1e2

Mit 9. … e5 löse ich jedes Zentrumsproblem, öffne die Stellung für meine Läufer und mache den Weg für die Dame frei. Dies alles lässt mir Zeit umherzuschweifen, die anderen Partien zu beäugen und anschließend Daniel aus dem Labyrinth der Siemenschen Gebäude ins Spiellokal zu lotsen.

Kurz darauf der Schock. Huge, ausgerechnet bei seinem Saisondebut, spielt die Eröffnung zu extravagant.

Diagramm nach 12. ... Se5

Statt mit 13. b4 eine halbswegs spielbare Stellung zu erreichen, wirft er mit 13. Se3?? die ganze Partie weg. O je! Ein schlechtes Omen. Hoffentlich geht es so nicht weiter.

Zwischenstand: 1:0

Bernhard hat am sechsten Brett, ja, wir spielen diesmal in Bestbesetzung, eine Hauptvariante der Nimzowitsch-Indischen-Verteidigung zu bekämpfen.

Diagramm nach 14. ... Lg6

15. Tad1

Interessant ist 15. S×e5 S×e5 16. d×e5 Se4 (16. … D×e5 17. f4 Dc7 18. f5 Dg3+ 19. Dg2 D×e3+ 20. Kh1) 17. Tad1 (17. f4 Sg3). Keine Ahnung, was da los ist.

Robert strebt zielsicher eine klassische Tabiya der Englischen Eröffnung an. Eine typische Maróczy-Struktur entsteht, wo Weiß immer mehr Raum besitzt. Schwarz versucht oft die Bauernhebel … b5 oder … d5 durchzusetzen. In der Position haben die Nachziehenden bereits viele Züge ausprobiert.

Diagramm nach 10. Dd3

10. … Da5 [10. … Sd7; 10. … Le6; 10. … Lf5; 10. … a6] 11. Ld2 [Weiß braucht keine Angst vor dem Damenschwenk zum Königsflügel haben: 11. h3 Le6 (11. … Dh5 12. g4 Dh4 13. Lf4! h5 14. Lg3 Dg5 15. f4±) 12. Ld2 Da6 13. b3 Tfd8 14. Tad1, mit guter Stellung; auf … d5 geht 15. Lg5!]

Mauro hat die Grünfeld-Indische-Verteidigung etwas eigenwillig interpretiert. In der vorliegenden Stellung sehe ich verschiedene gute Möglichkeiten für Weiß, wie zum Beispiel einfach die Rochade oder sogar den Aufzug des h-Bauern.

Diagramm nach 11. ... c5

Insgesamt weiß ich nicht, wie sich das alles zu unseren Gunsten entwickeln soll. Also schaue ich mal wieder zu Martin, dessen Stellung mir am meisten Freude bereitet.

Diagramm nach 10. ... Le7

Mit 11. Sb5! packt Martin den Stier an den Hörnern. Nur oberflächlich droht Damen- und Qualitätsgewinn auf c7. Der Springer macht auch die c-Linie auf und kann dann auf d4 die Dame weiter anzüglich bedrängen. Und in der Tat, nach 11. Sb5 Sa6 12. Sbd4 Dg4 13. h3 Dh5 14. Sf5 Lf8 15. g4 Dg6 16. Se5 D×g5 17. h4 ist es um ihre Majestät geschehen. Ich bin entzückt!

Das motiviert mich natürlich.

Diagramm nach 18. ... Lf4

Einige Zeit lang habe ich von dem Matt geträumt, dass nach … Le3+, … D×h2+ und … Th4 entstehen könnte. Leider habe ich keine Variante gefunden, wo ich Weiß zur Kooperation zwingen und mein Turm so schön einsteigen kann.

Aber es geht nach dem Fehler 19. Sde2 [19. Kg1 S×d3 20. T×d3 Te5 (20. … L×g3 21. h×g3 D×g3 ist sehr gut für Schwarz) 21. Dd1 Tfe8 22. a4 Th5 23. Kf2 D×h2 24. Sde2 (24. S×h5 Dh4+ 25. Kg1 Lh2+ 26. Kh1 Lg3+ 27. Kg1 Dh2#) 24. … Th3 25. Sh1 Lg5 26. Tg1 Lf5–+] auch ganz schnell: 19. … S×d3 20. T×d3 T×e2. Vorbei.

Zwischenstand: 1:1

Roman hat mit seinem letzten Damenzug nach g4 sogar eine Neuerung gespielt. Und das im 17. Zug! Damit macht er Bernhard ernsthafte Konkurrenz als Theoriehai.

Diagramm nach 17. ... Dg4

Ganz wohl ist mir beim Anblick der Stellung jedoch nicht. Noch ist nicht alles entwickelt. Will Weiß etwas erreichen, darf er jedenfalls nicht wie in der Partie spielen.

Nach 18. Tfe1 [Die ernsthaften Versuche beginnen mit: a) 18. L×c6 b×c6 19. f4; b) 18. D×g4 L×g4 19. f3 Le6 20. Lc3; c) 18. De1. Ich jedoch nicht beurteilen kann, ob das tatsächlich etwas bringt.] verflacht die Stellung in Schallgeschwindigkeit: 18. … D×e4 19. T×e4 Lf5 20. L×c6 b×c6 21. Tc4 Remis!

Zwischenstand: 1½:1½

Bei Bernhard entwickelt sich die Stellung immer interessanter.

Diagramm nach 17. ... e4

Die weißen Läufer stehen noch ziemlich unbeteiligt auf a2 und b2, die Spannung im Zentrum mit den angegriffenen Figuren will richtig gelöst werden. Nach 18. Sh4 Se5 19. c4 h5! tauchen urplötzlich große Gefahren für Weiß auf. 20. f4 e×f3 21. S×f3 S×f3+ 22. D×f3 h×g4 23. h×g4 Die weiße Königsstellung wirkt luftig, aber wie geht es weiter?

Ein Brett weiter wundere ich mich, dass Weiß einen Bauern mehr hat. Die Diagonale h8–a1 wirkt gefährlich, aber sollte Weiß die Stellung festigen können?

Diagramm nach 16. b3

Schwarz spielt 16. … Da5 und greift den Springer an, sodass Schlagen auf b7 drohen könnte. Ich wäre gespannt, ob es Robert geschockt hätte, wenn sein Gegner stattdessen 16. … g5!? gezogen hätte (der Bauer ist tabu).

Ich gehe weiter und beobachte mit Freude, dass Mauro seine Probleme gelöst hat. Sein letzter Zug mit der Dame zielt auf e5, was ihm die nötige Zeit verschafft, um seine Entwicklung abzuschließen.

Diagramm nach 16. ... Da5

Nach 17. f4 b5 18. Lb3 Lb7 steht er prima und kann sich sogar Gedanken über die tolle Diagonale seines Läufers machen.

Diagramm nach 24. Dd6

Ich drehe um und komme an Martins Brett vorbei. Nach dem Damengewinn hätte Schwarz genauso gut aufgeben können. Aber spätestens jetzt (siehe die vorangestellte Position) sollte sein Gegner angesichts weiteren Materialverlusts anständig aufgeben. Er will aber nicht. Hilft aber nichts. Wenige Züge später ist es dann soweit.

Zwischenstand: 1½:2½

Am Spitzenbrett sehe ich Daniel mit Läuferpaar und Raumvorteil.

Diagramm nach 24. ... Dxc7

Die c-Linie ist der schwarze Trumpf. Auch steht der weiße König nicht ganz sicher. Ich erwarte geduldiges Lavieren.

Schnell zu Robert zurück. Schwarz hat die Lage taktisch verschärft.

Diagramm nach 19. ... Dd8

Robert steht nun vor der Wahl: Zwei Figuren für Turm und Bauer oder den Mehrbauer zurückgeben und positionell mit Läuferpaar und Damenflügelmehrheit kneten. 20. Tac1. Robert entscheidet sich für die zweite Variante.

Interessant wäre 20. b×c4 S×c4 21. Dd3 S×d2! 22. D×d2 L×a1 23. T×a1 gewesen.

Analysediagramm nach 23. Txa1

Wie ist das zu beurteilen. In der anschließenden Analyse sind wir uns nicht einig. Roman und ich vertreten die materialistische Seite und behaupten, dass Weiß hier besser stehen muss.

Bei Bernhard spitzt sich die Lage zu. Der weiße König steht gefährdet, aber Weiß hofft auf L×f6 im rechten Moment.

Diagramm nach 23. hxg4

Bernhard spielt 23. … Te4. Die Alternativen sind 23. … Td6, 23. … Se4 und 23. … Sh7, die ich nicht berechnen kann. Alles sieht gut aus.

Bei Daniel passiert etwas, schnell hin.

Die versprochene langwierige Positionspartie wird es nicht geben. Denn Daniel mag nicht lavieren und öffnet stattdessen die Stellung: 25. f5 Lg5 26. f×e6 f×e6 27. Lh3 Sf8. Keine glückliche Entscheidung. Jetzt spielt der schwarze Läufer mit und e5 ist seiner gesunden Deckung beraubt.

Diagramm nach 27. ... Sf8

Das ist aber ganz schön luftig. Die c-Linie gewinnt an Kraft. Was macht denn Daniel nur? Um Gottes Willen! 28. a4? und nach dem stillen Rückzug Le7 fällt ein Bauer: 29. Dd2 Dc4 30. Lc3 Db3 31. Lg4 D×a4. Hoffentlich geht das gut!

Der Kampf wird eindeutig knapp ausgehen. Daniel bleibt aber ruhig und hält die Stellung.

Zwischenstand: 2:3

Mauro hat eine schöne Druckstellung mit reduziertem Material hergestellt:

Diagramm nach 27. Dc2

Das bindet die weiße Dame an g2. Außderdem hat Mauro noch den Freibauern in der a-Linie. Das sieht vielversprechend aus. Nach … Kg7 weiß ich nicht, wie Weiß den Druck los wird. Ach nee! Mauro tauscht die Damen. Das sollte dann Remis werden.

Roberts Gegner offeriert Remis. Wir empfehlen die Annahme, weil Mauro die Stellung mindestens Remis hält und Bernhard besser steht.

Zwischenstand: 2½:3½

Was hat sich bei Bernhard getan?

Diagramm nach 27. Df4

Einen Zug vorher hätte er auch auf c4 nehmen können. Aber Bernhard will natürlich den Turm näher beim feindlichen König postiert haben. So, was tun? Mir gefällt 27. … Kg7, z. B. 28. D×e5 f×e5 29. L×g6 K×g6. Auch 27. … Le4+ 28. L×e4 T×e4 29. D×e5 f×e5 sieht gut aus. Aber Bernhard geht aufs Ganze mit 27. … Te2+, was prinzipieller ist.

Es folgt 28. Kg3 Db2! 29. L×g6 [29. D×f6 Te3+! 30. Kh4 (30. Tf3 D×f6) 30. … Dh2+ 31. Kg5 Te5+ 32. Lf5 T×f5+! 33. T×f5 Te8, und gegen Kh7 ist nichts zu finden]. Jetzt einfach wiedernehmen und Weiß hat große Probleme.

Leider entgleitet Bernhard die Stellung bei knapper Bedenkzeit fast komplett. Plötzlich muss er ums Remis kämpfen. Das darf doch nicht wahr sein. Kippt der Kampf?

Bei Mauro kann hoffentlich nichts mehr passieren, oder?

Diagramm nach 38. ... Kc5

Nein! Das sieht totremis aus. Ja.

Zwischenstand: 3:4

Jetzt liegt es an Bernhard den Mannschaftssieg festzumachen.

Diagramm nach 36. ... Tee2

Nach 37. T×a7 Th2+ 38. Kg3 g5 39. Tb3 Thg2+ 40. Kf3 gibt es eine weitere Schrecksekunde, weil Bernhard mit dem falschen Turm Schach gibt!

40. Tdf2+?! [40. … Tgf2+ 41. Ke4 (41. Kg3 Tg2+=) 41. … Tde2+ 42. Kd3 Td2+=]

Aber sein Gegner ist bereits zermürbt und eh sichtlich froh überhaupt ins Remis entwischt zu sein. Nach weiterem starken Spiel von Bernhard sieht sein Gegner keine andere Möglichkeit als die Stellung mit Dauerschach ins Remis zu entlassen.

Endstand: 3½:4½

Das ist knapp! Und obwohl mit der besten Besetzung angetreten, ist es am Ende ein ganz enger Sieg. Damit stehen wir mit 7:3 Punkten wieder etwas besser in der Tabelle. Schon in zwei Wochen wird es weitergehen gegen Türkheim/Bad Wörishofen.

Finis

* Geschichten vom Herrn Keuner

* Nicht der Abgrund trennt, sondern der Niveau-Unterschied. (Neue unfrisierte Gedanken, Hanser 1964)